2+2 = 5–1 oder 6–2?

In seinem aktuellen Gastkommentar versucht Patrick Mange, BNP Paribas Asset Management, an Hand der Formeln „2+2=5-1“ bzw. „2+2=6-2“ die Wahrscheinlichkeit, dass der Aktien-Markt die Talsohle durchschritten hat, oder das weitere Korrekturen zu erwarten sind, zu beleuchten. Funds | 28.02.2008 06:30 Uhr
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In diesem gestörten makro- und mikroökonomischen Umfeld, in dem inzwischen fast alles, was gestern noch als Indiz für eine Aktienhausse diente, in Frage gestellt wird, ist nun von vorrangiger Bedeutung, ob die Talsohle an den Aktienmärkten schon durchschritten worden ist oder ob man sich auf eine erneute Baisse einstellen sollte. Rein „rechnerisch“ ausgedrückt, handelt es sich um die Beantwortung der Frage, ob 2+2 = 5–1 ist, d. h. mehr oder weniger, ob die unlängst erlittene Korrektur einer durchschnittlichen „Rezessionskorrektur“ entspricht, oder ob 2+2 nicht doch eher wie 6–2, wenn nicht gar noch schlimmer zu bewerten ist. Wenn wir uns an die Börsenweisheit halten, wonach bei Börsenabschwüngen nur Affen mit Bestimmtheit das Erreichen der Talsohle vorhersagen können, und davon ausgehen, dass wir mit unseren entfernten Vorfahren nicht mehr viel gemein haben, dann sollten wir uns davor hüten, diesen Versuch anzustellen. Dennoch sollten wir hier einige Gedankengänge verfolgen.

Wir werden also nicht über die Frage streiten, ob ein Aktienkursrückgang von 20,1 % – statt „nur“ 19,9 % – den Übergang von einem „Bullen-“ zu einem „Bärenmarkt“ kennzeichnet. Und in langweiligen Spitzfindigkeiten bezüglich der Frage, ob nun in den USA eine Rezession droht oder nicht, wollen wir uns in dieser Phase auch nicht ergehen. Vielmehr werden wir versuchen, unsere Ansichten bezüglich der beiden makrofinanziellen Elemente darzulegen, über die heute breit debattiert wird und die ein zentraler Aspekt jedes Anlageszenarios sind. Dabei handelt es sich zum einen um die These der wirtschaftlichen „Abkopplung“ der Schwellenländer von den Industrieländern.

Ist diese These nach wie vor aktuell, oder sollte man heute vielmehr von der „erneuten Ankopplung“ zwischen Nord und Süd ausgehen und in seine Überlegungen mit einbeziehen? Zweitens stellt sich die Frage, ob Aktien angesichts der derzeitigen Gewinnerwartungen als angemessen bewertet angesehen werden können oder ob sie nach wie vor zu teuer sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in Bezug auf diese beiden Fragestellungen die jeweils erste Alternative favorisieren, was der Einschätzung, dass die Aktienkurse ihre Tiefststände erreicht haben, mehr Gewicht verleiht.

Wirtschaftliche Abkopplung zwischen dem Norden und dem Süden weiterhin ein aktuelles Thema

Die Flut von Negativmeldungen will nicht abreißen. Zuletzt gingen wieder die Refinanzierungsprobleme durch die Medien, mit denen sich Anleiheversicherer aufgrund der bereits erfolgten oder vorgesehenen Herabstufung durch die Ratingagenturen konfrontiert sehen, die in Krisenzeiten merkwürdigerweise besonders eifrig ans Werk gehen und so die Krise noch weiter verschärfen. Man fragte sich schon, wo sich denn die restlichen Verluste der Subprime-Krise versteckten – nun weiß man es endlich. Wenn die von den Anleiheversicherern gewährten Garantien in Anspruch genommen werden, so werden sie diese in ihren Bilanzen verbuchen. Andernfalls müssten ihre Kontrahenten aus dem Finanzsektor ihre Rückstellungen noch weiter erhöhen. Derzeit werden Rettungsmaßnahmen ergriffen, und es sieht so aus, als könnten die „Monoliner“ wieder liquide gemacht werden. Jede andere Lösung würde für den Finanzsektor als Ganzes weitaus kostspieliger werden. Dennoch bleiben angesichts des komplexen Aufbaus der beteiligten Vermögenswerte und der Refinanzierungseinschränkungen, die zahlreiche Banken bedrängen, noch viele Fragen offen.

Auch die Nachrichten aus dem Wirtschaftssektor sind nicht gerade ermutigend. Die Konjunktur in den USA scheint sich von Tag zu Tag ein wenig mehr abzuschwächen, und es herrscht allgemein Konsens darüber, dass das erste Halbjahr praktisch von einer Stagnation geprägt sein wird. Stärker noch als der drastische Rückgang des Einkaufsmanagerindexes im nichtverarbeitenden Gewerbe ist die allmähliche, wenngleich stetige Verschlechterung der Lage am Arbeitsmarkt, die den Beobachtern Sorgen macht, wenngleich heute ein Anstieg der Gehälter um ca. 4 % und eine Arbeitslosenquote, die mehr oder weniger dem NAIRU entspricht, noch keine dramatische Lage heraufbeschwören. Auch andere große Industrieländer wie Japan, das Eurowährungsgebiet und Großbritannien werden von dem weniger günstigen wirtschaftlichen Umfeld in den USA und weltweit beeinträchtigt. Dies gilt umso mehr, als ihre Währungen meist effektiv aufgewertet wurden.

Schwellenländer bleiben nicht verschont

Es versteht sich von selbst, dass die Schwellenländer von dieser deutlichen zyklischen Abkühlung der Konjunktur in den großen Industrieregionen nicht ganz verschont bleiben werden. Aber wie wir bereits Ende 2006 angedeutet haben, veranlassen uns deutliche Tendenzen struktureller Art, die in engem Zusammenhang mit der langfristigen Entwicklung der Schwellenländer stehen, zu der Annahme, dass es zu einer gewissen wirtschaftlichen Unabhängigkeit oder „Abkopplung“ des Südens vom Norden gekommen ist. Eine wirtschaftliche Abkopplung garantiert natürlich nicht die gleichzeitige Abkopplung der Finanzmärkte. Im Übrigen lag die Korrelation der Aktienmärkte der Industrieländer mit denen der Schwellenländer – einmal abgesehen von Zeiten, in denen die Schwellenländer Krisen durchmachten – schon immer bei rund 80 %, selbst wenn sie in jüngster Zeit noch ein wenig gestiegen ist. Es sei an die beiden Hauptargumente erinnert, die diese These von der Abkopplung des Wachstums der Schwellenländer von dem der Industrieländer unterstützen.

Einerseits ist die Stabilität des Außenhandels der Schwellenländer entgegen der landläufigen Meinung seit einigen Jahren stärker an die beschleunigte Entwicklung des Handels innerhalb dieses Wirtschaftsrums als an den Handel mit den G7-Staaten geknüpft. Heute hat China die USA als Zielland für den Export der Schwellenländer abgelöst, und andererseits exportiert China mengenmäßig weniger in die USA als in andere Schwellenländer. Natürlich erklärt die Tatsache, dass China das „Produktionszentrum der Welt“ bzw. die „Werkbank Asiens“ geworden ist, weitgehend diese Entwicklung des Handels zwischen den Schwellenländern. Aber das immer noch große Produktionskostengefälle zwischen dem Norden und dem Süden führt nicht nur dazu, dass die Schwellenländer bei einer Abschwächung der Weltkonjunktur große Marktanteile dazugewinnen, sondern auch, dass Fertigungskapazitäten zunehmend und immer schneller in diese Länder verlagert werden. Diese beiden Effekte dämpfen die negativen Auswirkungen einer Abschwächung der Weltkonjunktur auf die Binnennachfrage in den Schwellenländern deutlich ab.

Diese Verlagerung von Fertigungskapazitäten ist zudem durch eine stärkere Binnennachfrage in den großen Schwellenländern gerechtfertigt. Das Wachstum der Nachfrage an den Binnenmärkten ist struktureller Art und hängt mit dem Aufholen des wirtschaftlichen Rückstands zusammen. Die höhere Investitionsquote führt zu technologischem Fortschritt und damit zu erheblichen Produktivitätszugewinnen. Die Beschleunigung des potenziellen Wachstums wird zudem durch die Landflucht erleichtert, die einen stärkeren Zuwachs der berufstätigen Bevölkerung in den Städten mit sich bringt. Und potenzielles Wachstum impliziert auch steigende Einkommen und damit eine stabilere Nachfrage. Nebenbei gesagt sorgt diese stärkere Nachfrage in den Schwellenländern auch für einen tendenziellen Anstieg der Rohstoffpreise und dadurch für steigende Erlöse der Erzeuger dieser Rohstoffe, wie in den meisten Schwellenländern zu beobachten ist. So schließt sich also der Kreis!

Aktien attraktiv bewertet

Die These von der wirtschaftlichen Abkopplung des Südens vom Norden ist insofern von Bedeutung, als sie das Szenario einer Weltwirtschaft untermauert, die nicht mehr allein von den USA abhängig und damit robuster ist, und ein nachhaltigeres weltweites Gewinnwachstum nahelegt. Sie erklärt sicherlich auch, warum sich die Gewinne der nicht im Finanzsektor tätigen Unternehmen, die in den USA im vierten Quartal 2007 gemäß den Vorlaufindikatoren um gut 12 % gestiegen sind, recht gut behaupten. Es sollte vielleicht daran erinnert werden, dass amerikanische Unternehmen laut volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung rund ein Drittel ihrer Gewinne im Ausland erzielen. Zu beachten ist ferner, dass die staatlichen Behörden nicht tatenlos zugesehen haben. Um den Immobilienschock und seine finanziellen Folgen abzumildern, hat die Federal Reserve ihre Leitzinsen bereits drastisch gesenkt, und weitere Senkungen werden folgen. Historisch gesehen haben Aktien noch nie negativ auf eine starke geldpolitische Stimulation reagiert, da sie – wie sich stets bewahrheitet hat – die Rückkehr besserer Zeiten für das Wachstum und damit auch für die Gewinne antizipieren. Die derzeitige geldpolitische Lockerung geht zudem einher mit kräftigen steuerlichen Anreizen von rund 1 % des BIP.

Wenn man auch an der Aussagekraft der Prognosen der Finanzanalysten zweifeln kann, die ein Wachstum der Gewinne – beispielsweise für den S&P 500 – von rund 17 % im Jahr 2008 voraussehen, so gibt es doch andererseits keinen Anlass, zu pessimistisch zu werden und die Gewinne unerbittlich in den roten Bereich fallen zu sehen. Dies gilt zumindest, wenn man, so wie wir, davon ausgeht, dass es nicht zu einer weltweiten Rezession kommt. Nun zeigen aber einfache Berechnungen, dass die Märkte heute bereits Gewinneinbrüche einzupreisen scheinen. Damit beispielsweise in den USA das mittlere reale KGV („Trailing-KGV“) genau seinen langfristigen Mittelwert von 18x erreicht, müssten die Gewinne 2008 um 25 % sinken! Alternativ würde das Trailing-KGV des MSCI Welt bereinigt um die saisonbereinigten Gewinne nur auf 16x steigen, während sein langjähriges Mittel bei 20x liegt.

Zu beachten ist ferner, dass Dividendenrenditen, die auf dem Niveau der Renditen langfristiger Anleihen (Europa, Japan und USA, und zwar unter Berücksichtigung von Aktienrückkaufprogrammen) liegen, nicht normal sind. Die Kurse von mehr als 20 % der Unternehmen, die im S&P 500 notiert sind und über 5 Mrd. USD Marktkapitalisierung aufweisen, liegen unter dem Eigenkapitalwert dieser Unternehmen (wobei es sich nicht nur um Finanzinstitute handelt). Ein weiteres nie dagewesenes Phänomen: mehr als 15 % der Unternehmen, die im Topix notiert sind, haben ein KGV von weniger als 10x. Ganz zu schweigen von den relativen Bewertungsindizes, die fast alle für Aktien günstige Rekordstände aufweisen. Oder die zahlreichen technischen Indikatoren, die auf überverkaufte Märkte hindeuten. Oder aber die Stimmungsindikatoren, die von einer ausgeprägten Risikoabneigung zeugen. Ein Blick auf diese Faktoren reicht, um zu verstehen, dass Aktien heute äußerst attraktiv bewertet sind.

Fazit

Angesichts all dieser Elemente, zu denen die nach wie vor gesunden Bilanzen der Unternehmen außerhalb des Finanzsektors kommen, können wir nicht anders, als zu folgendem Schluss zu kommen: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Markt die Talsohle durchschritten hat, ist heute größer als die Gefahr, dass die Aktienkurse weiter nachgeben. Daher geben wir der Formel „2+2=5-1“ den Vorzug vor der Formel „2+2=6-2“. Es scheint daher kaum angebracht, unser Aktienengagement noch weiter zu reduzieren. Da wir jedoch wissen, dass die Bewertungen alleine nur selten der Auslöser für eine Trendwende an den Märkten sind und da wir uns der immer noch erheblichen Risiken bewusst sind, die auf dem Finanzsektor und damit auf der Realwirtschaft lasten, haben wir es andererseits auch nicht eilig, unsere Gewichtung in Aktien zu erhöhen oder den Anteil zyklischer Titel aufzustocken.

Wir fürchten in der Tat immer noch, dass der Strom negativer Wirtschafts- und Finanznachrichten (bzw. positiver Nachrichten, die jedoch im Kontext der nach wie vor äußerst trüben Stimmung negativ gedeutet werden) desorientierend auf den Aktienmarkt wirkt und ziehen es daher vor, noch ein wenig abzuwarten, bis sich die Wogen geglättet haben, bevor wir mit gestärkter Zuversicht wieder Anlagen in dieser Anlageklasse vornehmen. Parallel dazu motivieren uns diese Umstände im Übrigen, eine Untergewichtung in Staatsanleihen zu vermeiden, die uns allerdings zurzeit übermäßig teuer erscheinen. Bei unseren anderen Positionen nehmen wir wenige Veränderungen vor, weder bei der Ausrichtung auf eine bestimmte Entwicklung der Märkte noch auf Umschichtungen. Unserer Ansicht nach wird der diesmal besonders stürmischen See schon bald wieder ruhigeres Fahrwasser folgen.


Zum Autor: Patrick Mange ist Leiter Anlagestrategie bei BNP Paribas Asset Management in Paris.


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